Das Wissen um die eigene Herkunft ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität. Das wird sowohl vom Grundgesetz als auch von der Europäischen Menschenrechtskonvention vorausgesetzt. Im Zweifel wiegt das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung schwerer als das postmortale Persönlichkeitsrecht eines Verstorbenen.
Die 1944 geborene Sigrun T. (der Name ist frei erfunden) wuchs in der früheren DDR auf. Sie wollte gerichtlich feststellen lassen, dass der verstorbene S. ihr Vater sei. Ihre Anträge, die Leiche von S. zu exhumieren, eine Gewebeprobe zu entnehmen und die Vaterschaft festzustellen, wies das Amtsgericht zurück. Die Frau legte dagegen Beschwerde ein. Daraufhin ordnete das Oberlandesgericht die Exhumierung der Leiche an, um ein DNA-Abstammungsgutachten zu erstellen.
Der eheliche Sohn von S. verweigerte jedoch seine Einwilligung. Daraufhin erließ das Oberlandesgericht einen Zwischenbeschluss. Dem Sohn stehe als nächstem Angehörigen zwar das Recht der Totenfürsorge zu. Dennoch sei seine Weigerung nicht rechtmäßig.
Das Gericht begründete seine Entscheidung so: Sigrun T. hat die Voraussetzungen für eine gerichtliche Vaterschaftsfeststellung dargelegt (§ 1600 BGB). Sie behauptete, dass S. in der gesetzlichen Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit ihrer Mutter gehabt habe und diese Behauptung hat sie nicht ins Blaue hinein aufgestellt. Sie berichtete vielmehr glaubhaft, dass ihre Mutter ihr am 18. Geburtstag offenbart habe, dass der Ehemann der Mutter nicht ihr leiblicher Vater sei, sondern dass sie von S. abstamme. Außerdem habe ihre Mutter sie in den Nachkriegsjahren zur Familie S. in Westdeutschland reisen lassen, nämlich zur Mutter und der Schwester des potentiellen leiblichen Vaters. Von der Oma sei sie sehr verwöhnt worden. Vor allem ein erstes Treffen von Sigrun T. mit S. in einem Hotel spreche dafür, dass die Vaterschaft wahrscheinlich ist. Denn S. sei selbstverständlich davon ausgegangen, ihr Vater zu sein. Die Schilderung dieses Treffens enthält eine ganze Reihe atmosphärisch stimmiger Einzelheiten, die nicht alle erfunden gewesen sein können.
Das waren für das Oberlandesgericht hinreichende Anhaltspunkte für eine gutachterliche Vaterschaftsfeststellung. Die DNA-Untersuchung hält das Oberlandesgericht für notwendig, weil die sonstigen zur Verfügung stehenden Beweismittel zur Feststellung der Vaterschaft nicht ausreichten. Von dem Verstorbenen zu Lebzeiten entnommene und asservierte Gewebeproben gibt es nicht. Der Sohn ist auch nicht bereit, eigenes DNA-Material für eine Untersuchung bereit zu stellen. Also bleibt nur die Exhumierung, um die Vaterschaft feststellen zu können. Dagegen spricht auch nicht, dass es Sigrun S. womöglich um vermögensrechtliche Interessen geht. Denn die Teilhabe am väterlichen Erbe ist ein legitimes Interesse, das hinter der Totenruhe nicht grundsätzlich zurücktreten muss.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts hielt der rechtlichen Überprüfung durch den Bundesgerichtshof stand. Auch die höchsten Richter in Karlsruhe halten die Exhumierung von S. für zumutbar. Das Recht von Sigrun T. auf Kenntnis der eigenen Abstammung gegenüber dem Recht auf Totenruhe hat Vorrang.
Das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung folgt unmittelbar aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, weil die Kenntnis und Zuordnung des Vaters von wesentlicher Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit ist.
Träger dieses Grundrechts können nur lebende Personen sein. Bei Verstorbenen ist der allgemeine Achtungsanspruch geschützt, der sie davor bewahrt, herabgewürdigt oder erniedrigt zu werden. Schutz genießt auch der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat. Zwar kann auch der Sohn ein eigenes Recht auf ein ungestörtes Andenken des Verstorbenen haben, was zum Beispiel gilt, wenn der Tote verunglimpft wird. Das ist hier jedoch nicht der Fall.
Az XII ZB 20/14, Beschluss vom 29.10.2014 BGH-Pressemitteilung