Sorgerechtsentziehung und Kindeswohl
Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen. Das hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, müssen die Fachgerichte im Einzelfall feststellen, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre.
Es geht um einen aus Ghana stammenden Vater, der um das Sorgerecht für seine im Februar 2013 geborene Tochter kämpft. Die Mutter leidet unter gravierenden psychischen Erkrankungen, keines ihrer vier älteren Kinder lebt bei ihr. Vor der Entbindung des jüngsten Kindes wurde sie in deinem Mutter-Kind-Heim betreut. Der Vater und die Mutter haben sich noch während der Schwangerschaft getrennt, der Vater hat eine neue Lebensgefährtin. Im Oktober 2012 haben die Eltern vorgeburtlich eine Vaterschaftsanerkennung und eine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben.
Das Amtsgericht entzog auf Anregung des Jugendamtes unmittelbar vor dem voraussichtlichen Geburtstermin beiden Eltern das Sorgerecht. Mitte Februar 2013 wurde die Tochter geboren und nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in einer Pflegefamilie untergebracht. Mit dem Vater finden auf gerichtliche Anordnung seit Mai 2013 begleitete Umgangskontakte statt.
Der Vater beantragte, ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen. Das Amtsgericht holte ein Sachverständigengutachten ein und stützte darauf seinen Beschluss vom 17. September 2013: Die Mutter sei krankheitsbedingt erziehungsunfähig. Der Vater sei nur eingeschränkt erziehungsfähig. Er könne derzeit das körperliche, geistige und seelische Wohl der Tochter nicht sicherstellen. Deshalb entzog das Gericht beiden Eltern die gesamte elterliche Sorge und bestellte das Jugendamt zum Vormund. Der Vater legte dagegen Beschwerde ein, die das Oberlandesgericht zurückwies – ohne mündliche Verhandlung. Es hatte lediglich Stellungnahmen des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin eingeholt.
Gefährdung des Kindeswohls nicht geprüft
Beide Gerichte stützen sich maßgeblich auf Feststellungen in einem Sachverständigengutachten, die sie im Wesentlichen übernommen haben. Die Verwertbarkeit des Gutachtens unterliegt jedoch erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln, welche die Gerichte nicht ausgeräumt haben, befanden jetzt die Bundesverfassungsrichter. So wird die Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls überhaupt nicht gestellt. Vielmehr prüft die Sachverständige die Erziehungsfähigkeit der Eltern in einer Weise, die nicht geeignet ist, aufzuklären, ob das Kindeswohl gefährdet sein könnte. Als Kriterien zieht sie unter anderem heran, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können“; ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und ob die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“.
Das Bundesverfassungsgericht stellt klar: Der Staat darf nicht seine eigenen Vorstellungen an die Stelle der elterlichen Vorstellung setzen. Außerdem sehen die Verfassungsrichter Hinweise darauf, dass die Sachverständige dem Vater gegenüber voreingenommen ist. So rückte sie wiederholt seine afrikanische Herkunft in den Vordergrund und bewertete dies negativ. „Die afrikanischen Verhaltensweisen“ deckten sich nicht mit dem Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung.
Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgericht thematisierten die Mängel des Gutachtens nicht. Stützen die Gerichte aber eine Trennung des Kindes von den Eltern – wie hier – auf Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, aus denen die erhebliche Kindeswohlgefährdung nicht ausnahmsweise geradezu zwangsläufig folgt, dann müssen sie sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten. Dies ist hier nicht geschehen. Deshalb hat die Kammer die Entscheidung des Oberlandesgerichts aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Az 1 BvR 1178/14, Beschluss vom 19.11.2014, BVerfG-Pressemitteilung